Wenig beliebt und doch allbekannt in den Kolonien war Mutter Krügers große Familie. Mutter Krüger war in einem armen Eifeldorf geboren, wanderte mit den Eltern ins Saar-Gebiet, wuchs im Saarkohlengebiet als echtes Bergmannskind auf, heiratete später, d. h. mit 18 Jahren einen Landsmann aus der Eifel, der auch Bergmann war, und verlor ihn, ehe ihr drittes Kind ins Leben trat.
Mutter Krüger kaufte sich damals vom Unfallgeld ein schwarzes Kopftuch mit dicken Seidenfransen. Mit dem ersten schweren Unglück erwachte in ihr der Lebenstrutz der Eifel, sie tat allen städtischen Flitter ab, legte die Häkelnadel und den falschen Zopf ganz hinten in die oberste Kommodenlade und begann zu schaffen. Vorerst mußte sie oft fragen, mußte manchmal ein Mißlingen in den Kauf nehmen, aber dann gedieh alles im kleinen Garten und im Stall. Sie ging nicht mehr zum Ball, sie ging nicht mehr zu Hochzeiten, sie sorgte sich um ihre drei Waisen. Notgedrungen nahm sie zwei Kostgänger ins Haus.
Weil sie aber weder Wirtschaften noch Kochen und Flicken gelernt hatte, geriet sie trotz aller Anstrengung in Borgschulden und wußte eines Tages keinen Rat mehr. Sie entdeckte ihren Kummer dem einen ihrer Kostgänger, der aus Trier stammte. Er lieh ihr Geld und bot ihr die Ehe an. »Ich alte Frau soll noch mal heiraten ?« jammerte sie in sich hinein und dachte an ihre schlechten Zähne, ihre dünnen Haare und ihren verschlissenen Staat. Aber dann dachte sie auch an ihre müden Arme, ihre bleichen Kinder, ihre einsamen Tage und namentlich an den entsetzlichen Klatsch der Kolonie…
Und Mutter Krüger sagte dem Trierer zu und heiratete ihn nach acht Wochen. Der zweite Kostgänger zog aus. Sie bekam eine Abfindungssumme von 500 Mark von der Unfallversicherung. Von diesem Geld bezahlte sie ein Fäßchen Bier, die großen Streuselkuchen, den Hochzeitsschinken und ihren neuen Staat. Das Einleben ging ziemlich schnell vor sich. Die Kinder bekamen besseres Essen und sie selbst auch. Ihr Mann war fleißig und machte allwöchentlich seine Überschichten.
Nach etlichen Jahren — es kamen unterdessen vier Kinder an — stellte sich Blutspucken bei dem fleißigen Manne ein. Er kam zur Erholung fort in ein Bergmannsheim, genas aber nicht mehr. Ein Blutsturz folgte dem ändern. Bald lag er im Krankenhaus, bald verlangte er nach Hause. Mutter Krüger-Bilz pflegte ihren Mann, so gut sie es vermochte. Es war eine furchtbare Zeit. Das Kassengeld floß meist dem Krankenhause zu. Die kassenärztliche Behandlung war rauh und teilnahmslos» für einen Privatarzt reichten die Mittel nicht aus, und so ging es immer tiefer ins Elend und in die Schulden hinein.
Der Kranke hatte nur noch verbitterte und verärgerte Worte im Munde, die Kinder wuchsen ohne die rechte Zucht heran. Wohl half die Älteste der Mutter schon tüchtig in Haus und Stall, die beiden großen Jungens aber waren für keine Arbeit zu haben. Sie lagen am liebsten bäuchlings im Grase und lasen Räubergeschichten oder spielten Indianer. Sie hießen Hannes und Köbes. Beide wurden nach der Schulzeit Grubenarbeiter. Hannes verschwand eines Tages mit einem Trupp Zirkusleute. Köbes, der weinerliche Junge, blieb lieber daheim bei der Mutter. Als kurz nach dem Ausreißen des Hannes der zweite Vater starb, da war Köbes der Mutter ein und alles. Lina war das Aschenbrödel, Köbes der altkluge Hausvater, und Mutter Krüger-Bilz ließ sich von diesen beiden Kindern regieren.
Und wieder gab es eine Kostgängerwirtschaft. Aber ohne Glück. Ein paarmal gingen die Kostgänger durch, ein andermal verschwanden sie und mit ihnen die Anzüge, Hemden usw. von Vater Bilz. Die Familie ging immer mehr zurück. Niemand wollte ihr borgen, Unfallrente gab es bei Vater Bilz Tode ja nicht, nur ein Sterbegeld, weiter nichts. Die kleinen Bilze wuchsen heran, schwächlich und ewig kränkelnd. Die englische Krankheit raste in den schwachen Gliedern. Es kostete unsägliche Mühe, diese Kinder groß zu ziehen. Mutter Krüger-Bilz hatte zwar ein Armenattest für den Arzt, aber die gleichgültige Behandlung durch den Armenarzt war ihr nicht genug.
Sie versuchte es mit Homöopathen, mit Naturheilmethoden und fuhr schließlich, als alles nicht helfen mochte, ins Westfälische hinein zu einem heilkundigen, alten Schulzen. Der untersuchte das Wasser der kleinen Dickbäuche mit den spindeldürren Armen und Beinen, besah sich die Augen der Kinder und meinte mitleidig: »Liebe Frau, da kann nur der Herrgott, die warme Sonne und allerbestes Essen helfen!« Ha, wie lachte Mutter Krüger-Bilz grell auf: »Und das alles soll eine arme Bergmannswitwe ohne Rente mit ihren eigenen dünnen Armen schaffen ?« Aber sie ließ sich doch raten. Sie nahm eine große Pulle Kräutersaft mit und tat, wie der weise Bauer geraten hatte.
Die Kinder bekamen einen heillosen Ausschlag, einen riesigen Hunger und brauchten mehr Pflege denn je. So kam es, daß die Mutter alle Gedanken auf die vier armseligen Kinderchen gerichtet hielt und wenig Obacht auf ihre Lina und deren Getue mit den Kostgängern hatte. Köbes wurde von ihr verhätschelt. Denn was sollte werden, wenn der Junge ihr nicht mehr die volle Lohntüte abgäbe? Doch eines Tages half auch hier das Hätscheln nicht mehr. Köbes Krüger hatte gekündigt, sich seinen ganzen Lohn herauszahlen lassen und war »abgehauen«. Die Alte griff sich in die grauen Haare und wußte nicht mehr ein noch aus. Um das Unglück voll zu machen, trat Lina eines Abends vor sie hin und erklärte, heiraten zu wollen. Sie hatte sich mit einem der Kostgänger eingelassen und stand vor der Schande. Fast willenlos sagte die enttäuschte Frau zu und half für die Hochzeit rüsten. Sie teilte von ihrem Hausrat der Tochter das Nötigste zu und ging, von Sorgen gebeugt und -wankend, stumpf ihre Wege. Der Schwiegersohn aber bekam Mitleid mit ihr. Er hatte sich bald einen Plan zurecht gelegt. »Wir ziehen alle zusammen ins Ruhrrevier«, schlug er vor, »da gibt’s hohe Löhne, neue Häuser und neue Menschen!«
Gesagt, getan. Er reiste vor, ließ sich eine Doppelwohnung anweisen und besorgte den Transport. Die Übersiedlung ging glatt von statten. Aber dann: Sechs lange Wochen gab es kein Geld, der letzte Sparpfennig ging drauf, und das Leben war bitter schmal. Es war ein schwerer Anfang. Doch eins war gut dabei. Die Lina brauchte keine teure Hochzeit, und der Köbes stellte sich wieder ein. Er beschaffte sich gleich am selben Tage Arbeit und zog wieder zur Mutter. Die Stiefgeschwister wuchsen heran und halfen schon in Stall und Haus. Das Lernen allerdings machte ihnen unbeschreibliche Arbeit, und auch gesund wurden sie eigentlich nie. Es blieben schwächliche, blasse Menschen.
Eines Tages fand sich auch der Ausreißer Hannes zur Mutti. zurück. Er war ein Sonderling und seine Lieblingsarbeit das Tanzen lehren. Erst wankte er mit steifen Gliedern zu Schicht, nach der Schicht jedoch warf er sich in »Kluft«, zog stet eine weiße Weste an, streckte die rauhen Hände in knallgelbe Handschuhe und suchte dann seine Lokale auf, wo er zu de Weisen eines Grammophons den linkischen Industrielingen das Tanzbein-Schwingen beibrachte. Köbes betrachtete den Tanzlehrer als halb übergeschnappt. Lina zeigte mit dem Finger auf die Stirne, wenn sie von ihm sprach, und die Stiefgeschwister grinsten allemal dumm dazu.
Mutter Krüger-Bilz war halber zufrieden. Sie hatte alle ihre Kinder wieder zusammen und arbeitete ihre Tage hin. Morgens in aller Frühe ging sie z Kirche, Tag für Tag. Sie hatte den Weg zum Herrgott wieder gefunden in all den Tagen der Not. Zufrieden gingen ihre T£ zur Neige, ruhig und still. Bei Lina tobte eine Schar Kinder in der Küche, jedes Jahr eins mehr, und ihre eigene Stube W! immer leerer. Denn ein Kind nach dem anderen wurde flügge und suchte sich selbst einen Herd. Hannes, der Tanzlehrer blieb eingefleischter Junggeselle, Köbes dagegen heiratete. Weder er noch Lina hatten Glück mit den Kindern. Sie wuchsen ihnen über den Kopf und blieben allesamt unter der Tüchtig ihrer Eltern.
Linas Ältester war mit 16 Jahren bereits ein Tagedieb mit heimlichen Gewerben von solcher Beschlagenheit, daß weder die Polizei noch der gerissene Industriededektiv ihn fassen konnten. Drei ihrer Kinder litten an Krämpfen. Linas vier Geschwister, drei Jungens und ein Mädchen, sattelten zu den Radikalen über. Sie lachen über die alte Großmutter und die dumme Lina mit ihrem Kirchenlaufen, leben modern, kleiden sich flott, machen tolle Touren und bauen sich Sozialisierungspaläste.
Mutter Krüger-Bilz sah das alles kommen. Im Kriege ist sie gestorben. Heute ist sie in ihrer gesamten Familie vergessen. Nur Lina gedenkt ihrer oft, denn sie trägt bei allen Ausgängen jenes schwarze Kopftuch mit Seidenfransen, das sich die Mutter zur zweiten Hochzeit gekauft hatte. Für sich ist sie mit der Welt fertig. Sie arbeitet und arbeitet. Ihre Kinder aber lachen sie aus und gehen eigene Wege. Sie verloben und entloben sich, sie bummeln und simulieren, sie arbeiten in Haß und Verbitterung und warten auf das Reich der Zukunft unter der Sowjetfahne ….
Die „Versuche zur Seelenkunde der Industriejugend“ von Heinrich Kautz erschienen 1926 unter dem Titel „Im Schatten der Schlote“ in der Verlagsanstalt Benziger & Co, Einsiedeln