In Neumühl

An den Vorsitzenden des Polizeibeirates Ratsherr Paul Degen
Duisburg, den 20.11.1977
Betr.; Polizeieinsatz gegen Jugendliche am 15.11.77

Neumühl Lieber Genösse Degen l Wir wenden uns heute an Dich in Deiner Eigenschaft als Vorsitzender des. Polizeibeirates. Sicher hast Du aus der Presse oder von der Polizei selbst von deren Einsatz am 15.11. gegen ca. 100 bis 150 Jugendliche in Neumühl erfahren. Die Jugendlichen waren Teilnehmer an einer privaten Feier in einen zum Abbruch anstehenden Haus an der Lehrerstraße. Veranstalter waren die beiden Söhne des Hauseigentümers, dessen Einwilligung zu diesem Fest vorlag.

Die Veranstalter führten am 19.11. im Unabhängigen Jugendzentrum Esch-Haus ein Informationssgespräch über den Polizeieinsatz durch, an dem auch ein Vorstandsmitglied unserer Arbeitsgemeinschaft als Zuhörer teilnahm. Ohne an dieser Stelle noch einmal auf den gesamten Ablauf des Einsatzes eingehen zu wollen – sowohl Polizei als auch Veranstalter haben ihre Sicht der Geschehnisse in detaillierten Presseerklärungen dargetan – muß festgestellt werden, daß beim unbeteiligten Beobachter doch eine Reihe von Fragen offen bleiben, um deren rückhaltlose Aufklärung im Polizeibeirat wir Dich bitten.

Im einzelnen ist uns folgendes unklar: l. Zum „Warum“ dieser Polizeiaktion.
1.1. Als Begründung für den Einsatz wurde von der Polizei das Delikt „ruhestörender Lärm“ angegeben. Hätte nicht eine gezielte Ansprache der Veranstaltungsteilnehmer durch die Polizei und im Wiederholungsfall die Beschlagnahme des Musikgerätes zur „Wiederherstellung der Ordnung“ ausgereicht? Eine solche Verfahrensweise ist ja sonst wohl bei ähnlich gelagerten Fällen üblich.
1.2. Augenzeugen aus Neumühl berichteten Wahrend des Informationsgespräches, daß bereits vor dem ersten Eingreifen der Polizei ca. 14 Polizei-Einsatzfahrzeuge auf der Holtener Str. (Basarstr.) zusammengezogen worden seien. Sollte dieser Umstand den Tatsachen entsprechen, ließe er den Schluß zu, daß die Aktion vorbereitet war, das Delikt „ruhestörender Lärm“ nur als Vehikel zum Einschreiten diente und in Wahrheit andere Motive (Frage: welche?) für den Einsatz vorlagen. Speziell diesen Punkt halten wir für besonders aufklärungsbedürftig. In diesem Zusammenhang empfinden wir es als merkwürdig, daß angeblich Beamte des 14.K. die Verhöre der Festgenommenen durchführten.

2. Zum „Wie“ der Polizeiaktion. In den Darstellungen der Veranstalter heißt es, Polizisten hätten
– Teilnehner geschlagen, getreten und an den Haaren gezerrt,
– Türen eingetreten,
– die „Chemische Keule“ angewandt,
– Jugendliche mit Polizeiwagen über Bürgersteige hinweg verfolgt,
– die Angabe ihres Namens und ihrer Dienstnummer verweigert,
– 12 wahllos herausgegriffene Jugendliche festgenommen
– die Jugendlichen nit Knebelfesseln abgeführt und schließlich
– einen Rechtsanwalt die Kontaktaufnahne zu den Festgenommenen verweigert

Dies alles sind, darin wirst Du sicher mit uns übereinstimmen, massive Vorwürfe, die dringend einer eingehenden Aufklärung bedürfen.

Bei allem Respekt vor den berechtigten Anliegen der Nachbarschaft nach ungestörter Nachtruhe scheint bei diesen Einsatz -sollten die Vorwürfe der Jugendlichen auch nur zum Teil zutreffen – der Grundsatz der „Angemessenheit.der Mittel“ in keiner Weise beachtet worden zu sein. Auch wenn, wie in Teilen der Presse berichtet, einige Jugendliche durch Sprechchöre die Polizisten möglicherweise provozierten, so sollte der Ausbiidungsstand der Beamten doch heute so hoch sein, daß sie nicht mit derartigen Überreaktionen darauf antworten. Hier ist in erster Linie die Einsatzleitung angesprochen.

Wir bitten Dich, lieber Genösse Degen, also noch einmal darum, im Polizeibeirat für eine schonungslose Aufklärung über Hintergründe und Durchführung der Polizeiaktion einzutreten. Sollten sich wesentliche Vorwürfe der Jugendlichen als berechtigt erweisen, so sind u. E. daraus umgehend personelle Konsequenzen bei der Polizei zu ziehen.
Es geht nicht an, daß der in letzter Zeit in Teilen der Jugend ohnehin ins Wanken geratene Glaube an den demokratischen Rechtsstaat durch Aktionen der Polizei weiter erschüttert wird.

In diesem Zusammenhang ist auch noch eine Episode interessant, die während des Informationsgespräches im Esch-Haus beobachtet wurde. Als nämlich Mitglieder der „Roten Garde / KPD-ML“ damit begannen, Flugblätter gegen den „Polizeiterror“ und die „Faschisierung“ in der Bundesrepublik zu verteilen, um so – wie in früheren, ähnlich gelagerten Fällen auch – ihr „politisches Süppchen“ mit Hilfe der Vorfälle in Neumühl zu kochen, wurden sie von den anwesenden Jugendlichen aufgefordert, die Verteilung einzustellen und den Raum zu verlassen. Die jugendlichen Veranstalter distanzierten sich in aller Form von dem Flugblatt und von Parolen, die die „Rote Garde“ an das Haus an der Lehrerstraße geschmiert hatte. „Solche Schmierereien“, so der Veranstalter Helmut Stockhecke unter dem Beifall der schätzungsweise 150 anwesenden Jugendlichen und Erwachsenen „schaden unserem Anliegen nach Aufklärung des Vorfalles“

Wir wären Dir sehr dankbar, wenn Du uns über die Erörterungen des Vorfalles in Polizeibeirat unterrichten könntest.

Mit freundlichen Grüßen

SPD Jungsozialisten Unterbezirk Duisburg , i.A. Günter Zieling und Monika Töpfer –

in: Dokumentation zum Neumühl-Prozess (1979)