Sieht man von einzelnen Prachtbauten ab, die der Initiative des weitblickenden Oberbürgermeisters zu verdanken sind, wie das aus Sandstein in romanischem Stil erbaute Rathaus, ferner die neuen Volksschulhäuser, das Realgymnasium und die höhere Mädchenschule, sowie das gegenüber dem Rathaus gelegene Reichsbankgebäude, aus rotem Sandstein errichtet, so fällt unser Auge einerseits nur auf hohe Mietskasernen, denen man schon äußerlich ansieht, daß ihre Erbauer mehr auf Quantität als auf Qualität Wert legten und andererseits auf weite Häuserreihen kleineren Umfanges, deren Gleichheit der Bauweise sie sofort als Koloniehäuser charakterisieren.
In den Straßen bewegen sich neben rasch dahineilenden Geschäftsreisenden fast nur Arbeiter und Arbeiterfrauen, darunter viele ausländische Typen, die Polinnen mit den bunten Tüchern über den Kopf geschlagen, die Kassubinnen mit weissen Jacken nach dem Schnitt von Nachtjacken bekleidet, ein buntes Völkergewirr, das wie beim Turmbau zu Babel jedes in seiner eigenen Sprache, nach seinen eigenen Sitten dahinlebt.
Inmitten dieser Zentrale modernster Unternehmungen mit ihrem grossen Arbeiterheer erhebt sich eine alte Kirche, die im Jahre 1137 gestiftete ehemalige Prämoustratenser-Abtei mit einem prachtvollen romanischen Kreuzgang. Wie eine grosse mächtige Hand hebt sie mahnend ihre Türme, als ob sie sagen wollte, dass Hasten und Ringen nach materiellem Besitz allein unser Leben nicht reich und froh mache, dass hier eine Stätte sei, wo sich die Menschen um die höchsten Güter der Kunst und der Kultur gemüht und dass von der Kunst und der Kultur nur die Kraft ausgehe, die den Menschen hinaufpflanze. Wohl füllen sonntäglich hunderte frommer Beter das grosse Gotteshaus, ob aber die Vorbedin-gungen geschaffen sind, den tiefen Sinn zu verstehen, der in dieser Stätte alter Kultur liegt, das wird wohl aus unserer Untersuchung hervorgehen.
Entnommen aus: „Die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen in dem modernen Industrieort Hamborn im Rheinland“ – Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde einer hohen staatswissenschaftlichen Fakultät der Erhard-Karls-Universität zu Tübingen , vorgelegt von Li Fischer-Eckert aus Hagen in Westfalen. Verlag von Carl Stracke 1913