Gewaltsame Räumung einer Party in der Neumühler Lehrerstrasse

1979 wird im Hamborner Ratskeller der Neumühl-Prozeß verhandelt. Angeklagt werden 12 Hamborner, die im November 1977 eine Party in der Neumühler Lehrerstrasse veranstaltet haben, diese wird von der Polizei wegen „ruhestörenden Lärms“ gewaltsam beendet. Im folgenden Text wird die Darstellung der 12 Angeklagten wiedergegeben ( Info III zum Neumühlprozess).

„Seit Wochen läuft der Neumühl-Prozess. Angeklagt sind 12 Festteilnehmer wegen Landfriedensbruch. Ein Mammutprozess: 12 Angeklagte, 12 Verteidiger, 83 Zeugen, Sachverständige. Die 50 Anzeigen aber, die 1977 gegen die beteiligten Polizisten wegen Körperverletzung, Nötigung und versuchtem Totschlag gestellt wurden, sind bis heute nicht weiter bearbeitet worden. Seit Wochen versuchen die Polizeizeugen den Polizeiüberfall auf das „Neumühl-Fest“ mit Ruhestörung zu rechtfertigen.“

Der Neumühl-Prozess

Am ersten Verhandlungstag ziehen die 12 als Mafiosi verkleideten Angeklagten morgen um 8 Uhr zusammen mit ca. 150 Freund(inn)en vom „Tatort“ Lehrerstraße zur Verhandlung im Ratskeller. Während der Saal sich füllte, wurde draußen (wie zukünftig an jedem Prozeßtag) ein Informationsstand mit Transparenten, Flugblättern und der Dokumentation aufgebaut. Am 1. Tag haben die Angeklagten das Wort. Sie stellten den politischen Zusammenhang im Herbst 1977 her, die persönlichen Erfahrungen mit der Polizei. Insbesondere bei der Kalkardemonstration, die eigene Schilderung des Ablaufs beim Fest, die Forderung nach Freispruch, sowie nach Anklage der Polizei. Die Beantwortung weiterer Fragen wird zu diesem Zeltpunkt von allen abgelehnt.

Es gelingt,die politische Dimension dieses Prozesses deutlich zu machen: es geht nicht um „ruhestörenden Lärm“ , es geht um die Hintergründe des Polizeiüberfalls.

2. Prozesstag

Am 2. Prozefltag sind 15 Zeugen geladen; nicht einmal für drei reicht die Zelt von 9-16 Uhr Der Vorsitzende versucht die Fragen der Verteidigung nach den Hintergründen des Polizeieinsatzes drastisch zu beschränken: viele Fragen bedürfen erst der Zulassung durch das Gericht. Die Verteidigung wehrt sich entschieden. Das Verfahren droht chaotisch zu werden und in verfahrenstechnischen Details steckenzubleiben. Auf Anraten der Verteidigung und des Staatsanwaltes unterbricht der Vorsitzende in den folgenden Stunden die Befragung der Zeugen nur noch selten.

Der 1. Zeuge, Kriminalobermeister und verantwortlich für die gesamten Polizeieinsätze In dieser Nacht, gab am Abend des 15.11.77 dem Einsatzleiter Wischnefski den Befehl:

„Kriegen Sie die Sache in den Griff“. Auf die Frage, ob er diesen Einsatz als glücklich bezeichnen würde,meinte er dreist: „Im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten wurde er gut ausgeführt.“ Am Ende der Befragung mußte er zugeben, mit dem Einsatzleiter (der für den selben Tag als Zeuge geladen war) sämtliche Aussagen besprochen zu haben.

Der 2. Zeuge, Kriminaloberkommissar vom 14.K. (politische Polizei) vernahm gleich nach der Räumung zwei der dabei Festgenommenen. Wie er sagte. reichten für ihn die Stichworte „schwarze Fahne, Abbruchhaus, Räumung“ und der Name „Routhier“ aus, um auf eine Hausbesetzung zu schließen, bei der „weitere Aktionen beschlossen werden sollten.“ Drei Tage später mußte er sich vom Katasteramt eines besseren belehren lassen. Das Haus gehörte den Eltern der Festveranstalter.

Der 3. Zeuge gehörte zu der Streifenwagenbesetzung, die zunächst auf dem Fest erschienen war und verlangte, die Stereoanlage leiser zu stellen. „Ich wurde geschubst und auf den Hinterkopf geschlagen; ich hörte: Bullen raus, zieht denen die Klamotten aus“, gab er an. Davon stand allerdings kein Wort in seinem Einsatzbericht vom 16.11.77.

Dafür fanden sich in diesem Bericht Mutmaßungen über die Art des Festes: „Sympathiekundgebung für einsitzende Anarchisten“ u.a. „Das habe ich nie geschrieben!“, beteuerte er, bis ihm gezeigt wurde, daß unter dem Bericht seine Unterschrift stand! Im Laufe der Vernehmung verstrickte sich der Beamte immer mehr in Ungereimtheiten und wurde dreimal an seine Wahrheitspflicht erinnert.

3. Prozesstag

An diesem Tag kann nur ein einziger Zeuge gehört werden, der zweite Beamte des Strelfenwagens. Die Vernehmung wird auch an diesem Tag nicht abgeschlossen. Widersprüche zu bisherigen Polizei-Zeugenaussagen gibt es bereits einige. Wichtig an diesem Tag sind die „Nebenprodukte“ :

Ein Verteidiger erklärt zu Anfang, daß nach seiner Information ca 1 Stunde nach Beendigung des ersten Prozeßtages etwa 30 Polizeibeamte, mit MP bewaffnet, den benachbarten Rathauskeller verlassen hätten.

Er fühle sich persönlich durch eine derartige Anwesenheit bedroht – diese Empfindung erklärte er mit dem Fall Routhier , der bei einer Gerichtsverhandlung durch eine Saalräumung tödliche Verletzungen erlitt. Der Vorsitzende Richter erklärte , daß er einen solchen Einsatz innerhalb der Verhandlungsräume nicht dulden würde. (Im Fall Routhier hatten sich die Beamten allerdings keine Genehmigung beim Richter eingeholt!)

Der Staatsanwalt kündigt ein Ermittlungsverfahren gegen einen der Angeklagten an. Dieser sei ihm während der letzten Vernehmungspause trotz Aufforderung nicht von der Seite gewichen und habe ihn belauscht. Dazu muß man wissen, daß der Staatsanwalt abseits mit dem vorher vernommenen Zeugen „munkelte“. Der damit beschuldigte Angeklagte durfte eine Erklärung hierzu nicht abgeben. Die Befragung ergab, daß bei der Duisburger Polizei ein Merkblatt existiert, in dem frühere Prozesse verarbeitet wurden. Hierin gibt es Empfehlungen für Zeugenaussagen vor Gericht. Weitere Fragen nach dem Inhalt werden leider vom vorsitzenden Richter unterbunden. Außerdem schränkte der Zeuge ein, daß er nicht wisse, ob sich seine Aussagegenehmigung auch darauf erstrecke.

Als Taktik der Polizeizeugen zeichnet sich ab: in heiklen Situationen müssen die Herren Wachtmeister und Oberwachtmeister erst einmal klären, ob sich ihre Aussagegenehmigung auf die Beantwortung auch dieser Frage erstreckt. Klären kann dies aber nur die vorgesetzte Dienststelle und das bedeutet Unterbrechung der Vernehmung, wenn´s sein muß bis hin zum völligen Lahmlegen der Verhandlung. Wenn dies nichts nützt, werden Fragen beantwortet mit „ich weiß nicht mehr“, „ich kann mich nicht mehr erinnern“, „das habe ich nicht gesehen“ usw.
Der 3. Verhandlungstag mußte unterbrochen werden, als sich der Zeuge weigerte unter Berufung auf seine Aussagegenehmigung, die Frage nach den beim Einsatz mitgeführten Waffen zu beantworten.

4. Prozesstag

Nachdem der Richter die Frage der Aussagegenehmigung mit dem Polizeipräsidenten geklärt hatte, räumte der Zeuge vom Vortag ein, daß er die Chemische Keule auf ausdrückliche Anweisung zum Einsatz mitnahm. Darüberhinaus schleppte sich der Tag hin, ohne daß wesentliche Informationen gegeben wurden. Selbst der völlig widersprüchliche Zeuge vom 2. Verhandlungstag zeigte sich besser vorbereitet und schien die Prozeßstrategie der Polizei endlich begriffen zu haben. Auch er wußte plötzlich kaum noch etwas!

Spannend wurde es, als der damalige Einsatzleiter Klaus Wischnefski sich weigerte, seine Zeugenaussage aus seiner Erinnerung wiederzugeben. Trotz mehrmallger ausführlicher Rechtsbelehrung bestand er darauf nur seinen damaligen Einsatzbericht vorzulesen. Da dies nach der Strafprozeßordnung verboten ist, wurde Wischnefski zu einer Ordnungsstrafe verurteilt. […]

5. Prozesstag

Nachdem der Einsatzleiter Wischnewski , wie er selbst sagte, „2 Tage in seinen Erinnerungen gewühlt“ hatte, legte er los: Durch die Ruhestörung in der Lehrerstrasse sei eine „polizeiliche Großeinsatzlage“ entstanden. (Was ist das?) Er forderte „alle im Großraum Duisburg verfügbaren Polizeikräfte“ an, um ein „gesundes Verhältnis“ zwischen Ruhestörern und Polizeikräften herzustellen.

Zur „Eigensicherung“ gab der Einsatzleiter auf der Wache Hamborn, zusätzlich zur normalen Ausrüstung (Dienstpistole, Knebelkette, Schlagstock) die „Chemische Keule“ aus, den Rest an Chemischen Keulen verteilte er am Sammelpunkt Lehrer- / Holtenerstraße. Er habe angeblich keinen Befehl zum Mitführen von Maschinenpistolen gegeben — allerdings habe er dann beim Einsatz im Haus 1 Masch.Pistole gesehen. Waren die anderen Maschinenpistolen im Haus vielleicht Attrappen?!

Einsatzbesprechung Ecke Lehrer- / Holtenerstrasse, inzwischen waren 30 Polizisten anwesend. Der Einsatzleiter hatte folgenden Schlachtplan:

1) „Innere Hausabsperrung“, d.h. 9 Polizisten hatten den Auftrag im Haus Strategische Punkte“ – Flur- Treppe – Ausgänge – Lichtkasten zu besetzen. (Also eine eindeutig rechtswidrige Hausbesetzung!)

2) Die restlichen 20 Polizisten, vorneweg der Einsatzleiter und ein Beamter mit Handscheinwerfer (kein Armleuchter) sollten in die Räume, wo die Ruhestörung herkam, eindringen.

3) Das „polizeiliche Einsatzziel“ war, den „Veranstalter ausfindig zu machen“ und „durch gütliches Zureden die Ruhestörung abzustellen.“

Vom Gericht befragt, ob er denn nicht daran gedacht habe, schon Personen vor dem Haus oder an der Türe nach dem Veranstalter zu fragen, erklärte er, das „habe ich nicht in Erwägung gezogen!“

6. Prozesstag

Mit phantastischen Mächen rechtfertigt der Anführer die Räumung:

Obwohl seit 2 Jahren bekannt ist, daß die Musikanlage durch Kurzschluß ausgefallen war, behauptet er: „…erst durch das Herausziehen des Steckers der Stereoanlage haben wir Ruhe schaffen können.“
Obwohl die Bande damals unbemerkt ins Haus und in den finsteren Tanzraum eingedrungen war, – und obwohl sie uns plötzlich durch Taschenlampenlicht, und die Aufforderung „Los raus hier, das Fest ist aus“ überraschten, behauptet er: „…schon als wir die Treppe hinaufgingen, wurden Pöbeleien und Aktivitäten gegen uns verübt.“

Mit diesen Anschuldigungen versucht er die wahren Hintergründe für den Polizeiüberfall und die brutale Hausräumung zu vertuschen. Wie brutal die Polizisten vorgingen, beschreibt der Einsatzleiter dann zynisch so:

Einsatz der Chemischen Keule: Nachdem „unter Anwendung von körperlicher Gewalt“ die Menge vom Hof gedrängt wurde, und nach den ersten Festnahmen, gab er Befehl die Chemische Keule einzusetzen. Er sagt: „…Eine Notwehrsituation bestand nicht, wir waren selber von der Wirkung überrascht, alle stieben auseinander!“

Er gibt zu, daß der vorgeschriebene Mindestabstand von 2 Metern unterschritten wurde. Er gibt zu daß auch (zufällig) ins Gesicht getroffen wurde. Er gibt zu, daß ab diesem Zeitpunkt die Chemische Keule ständig eingesetzt wurde. Durch diese Aussage wird klar, daß die Polizei Waffen einsetzt, ohne deren .Wirkung oder Folgen überhaupt zu kennen!

Das sogenante „Einsatzmittel Fahrzeug“: Vom Richter befragt, ob es stimmt, daß er den Befehl gegeben hat, auf einzelne oder Gruppen loszufahren, erklärt er: „… ja. das ist eine polizeitaktische Maßnahme.“ Als der Richter ungläubig fragt, wie dicht denn rangefahren wurde, erklärt er: „Hautnah“

in: „Neumühlprozess“ , Info III , 1979 , herausgegeben von Norbert Stockhecke , „im Namen der 12 Angeklagten und aller Festteilnehmer“