Neumühl-Prozess 1977-1979

Sicherlich werden Sie jetzt verstehen, daß wir diesen ungerechtfertigten Polizeieinsatz nicht tatenlos hinnehmen können. So beschlossen wir noch am gleichen Abend ein Treffen für den nächsten Morgen, um zu überlegen. was zu tun sei. Gemeinsam mit einem Rechtsanwalt rekonstruierten wir möglichst detailliert die Ereignisse der vergangenen Nacht. Dabei wurde uns klar, daß wir den Vorfall noch immer nicht verstanden und erst recht nicht verarbeitet hatten, zumal zwei unserer Freunde zu diesem Zeitpunkt immer noch in Polizeigewahrsam waren.

Wir haben mehrmals versucht, bei dem zuständigen Polizeirevier Auskunft über den Verbleib der beiden zu bekommen, erhielten aber nur widersprüchliche Antworten. So machte sich neben der Angst noch ein allgemeines Gefühl der Ohnmacht und Ungewiß-heit breit. Uns wurde sehr schnell klar, daß wir in weiterer Konsequenz zweigleisig verfahren müßten; zum einen erschien eine defensive Vorbereitung auf die zu erwartenden Prozesse als Selbstschutz notwendig: Zunächst galt es den Polizeiüberfall möglichst detailliert festzuhalten.

Alle Festteilnehmer waren aufgefordert ihre Beobachtungen aufzuschreiben. Insbesondere waren Zeugenaussagen zu Festnahmen wichtig, wer sah was ihnen vorausging und was während der Festnahme geschah. Weiterhin suchten wir nach Zeugenaussagen Unbeteiligter und befragten aus diesem Grund die Anwohner der Lehrerstraße. Leider mußten wir feststellen, daß kaum jemand dazu bereit war.

Darüber hinaus wollten wir offensiv den Beschuldigungen entgegentreten. Wir verfaßten eine Presseerklärung gegen den falschen Polizeibericht und verschickten sie an Lokalzeitungen und Presseagenturen. Ein von uns erstelltes Flugblatt verteilten wir in Neumühl, an Eltern und Interessierte. Wir beschlossen ein weiteres Treffen am folgenden Samstag im Esch-Haus. Weit über 200 Perso-nen waren anwesend, darunter viele Eltern. Wir beschrieben den Verlauf des Polizeieinsatzes, wobei wir durch die gestellten Fragen feststellen mußten, daß viele den Umfang und die ungerechtfertigte Brutalität nicht verstehen konnten. Zumal die veröffentlichte Stellungnahme der Polizei in der Presse den Ablauf des Überfalls völlig verzerrte und verharmloste.

In diesen Presseberichten worden jegliche politische Hintergründe des Einsatxes verleugnet, obwohl zu diesem Zeitpunkt schon eindeutig feststand, daß das 14.Kommissariat (politische Polizei) die Ermittlungen leitet.

Am darauffolgenden Montag setzten wir uns noch einmal zusammen, um gemeinsam mit Anwälten Anzeigen gegen die eingesetzten Polizeibeamten zu erstellen. Wir fordern Strafverfolgung wegen Nötigung, Körperverletzung, Freiheitsberaubung im Amt und ver-suchtem Totschlag. Die Sammelanzeige wurde von 50 Betroffenen unterschrieben.

Bis heute ist uns noch nicht die Annahme , geschweige denn die Bearbeitung bestätigt worden. Wie der ermittelnde Staatsanwalt von Wallie im August 78 auf Anfrage der WAZ mitteilte, würden unsere Anzeigen vom Ausgang der Verhandlungen abhängig sein. Mittlerweile wurde der Polizeibeirat von mehreren Seiten zur Untersuchung und Berichterstattung aufgefordert; brachte der Unterbezirksparteitag der SPD eine kleine Anfrage im Landtag ein; erreichten uns mehrere Solidaritätsadressen und in unzähligen Diskussionen wurden die Ereignisse heftigst erörtert und analysiert. Zu der kleinen Anfrage im Landtag gab Innenminister Hirsch bekannt, daß er nicht zu einem laufenden Verfahren Stellung nehmen will.

in: Dokumentation zum Neumühl-Prozess (1979)